Anm. 53,6-12

53, 6. Wir alle waren verirrt wie Schafe, jeder ging seinen Weg, aber JHWH veranlasste, dass er bat wegen der Verkehrtheit bei uns allen.

53, 7. Er kam heran, aber gerade er wurde niedergedrückt. Aber er öffnet seinen Mund nicht, wie ein Lamm, wenn es zur Schlachtbank geführt wird. Und wie ein Mutterschaf, das vor denen verstummt, die es scheren, so öffnet er seinen Mund nicht.

Vers 6b ist voll wörtlich zu verstehen: Weil wir alle verkehrt handeln, bittet Jesus, denn wir können es nicht, weil wir uns damit schwertun, das Ohr Gottes zu finden. Das steht erst am Ende eines Lernprozesses an. Es ist nicht gemeint, dass er bittet, dass die Verkehrtheit beseitigt wird.

In den Versen 6 und 7 werden 3 Benennungen für Schafe verwendet. Ein verirrtes Schaf ruft eine bestimmte Vorstellung hervor. Deshalb habe ich in V. 6 diese Übersetzung belassen, obwohl es das Wörterbuch mit „Kleinvieh aus Schafen und Ziegen“ angibt, aber diese Benennung war mir zu unanschaulich. Das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, in V. 7 ruft ebenfalls eine bestimmte Vorstellung hervor, obwohl das Wort nicht unbedingt ein Lamm benennen muss, sondern auch für ein größeres Schaf gebraucht wird. In aller Regel ist es ein männliches Tier. Interessant ist, dass sich 1. Mose 22, 8 dasselbe Wort findet, das hier aber von Luther mit Schaf übersetzt wird. Der Kontext ist die Opferung des Isaak. Mutterschaf hat mir als Benennung in V. 7 selbst nicht gefallen, aber es trifft vom Inhalt her zu, wie es auch der Landmann bestätigen wird. Im Hebräischen wird danach die Stammmutter Rahel benannt.

53, 8. Aus Schutz und Recht ist er weggenommen worden, aber wer von seiner Generation wird bedenken, dass er abgeschnitten wurde vom Land der Lebendigen, vom Treuebruch meines Volkes ein Schlag für ihn.

Die revidierte Lutherübersetzung (1964) hat in Jes. 53,8: Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen worden. Die revidierte Elberfelder (1985) liest: Aus Drangsal und Gericht wurde er hinweggenommen. Beides ist vom Inhalt her nicht überzeugend. Jesus ist doch durch die Kreuzigung nicht „befreit“ worden, sondern daran gestorben. Jedenfalls ist es von Vorteil, aus Drangsal und Gericht hinweggenommen zu werden. „Durch Drangsal und Gericht weggenommen“ ergäbe Sinn, aber damit übersetzt man die Präposition falsch. Es ist nötig, völlig mit der üblichen Vorstellung zu brechen. „Aus Schutz und Recht ist er weggenommen worden“ kündigt den Beginn der Passion an, während „aus Angst und Gericht hinweggenommen“ das Ende des Prozesses angibt. Die beiden Begriffe müssen positiv belegt sein, damit der Text sinnvoll ist und die Präposition belassen werden kann. Das Wort, das üblicherweise hier mit „Gericht“ übersetzt wird, hat selten eine negative Bedeutung. Es wird sogar überwiegend positiv gewertet, wie man aus Jes. 42, 1 ablesen kann: Der Knecht bringt das Recht unter die Heiden. Ähnlich heißt es 42, 4, dass er auf Erden das Recht aufrichte. Damit ist kein „Gericht“ gemeint, denn darauf würde man nicht warten. Es ist eben ein Recht, auf das man sich stützen kann. Dasselbe Wort bezeichnet auch in 2. Mose 21, 1 die „Rechtsordnungen“. Es ist der Vertrag zwischen Gott und den Menschen gemeint. Schwieriger zu greifen ist der Parallelbegriff. Die Freiheitsbegrenzung muss nicht Haft (Luther: Angst) bedeuten, sondern kann auch die „gebundene“ Frau im Gegensatz zur „losgelassenen“, der geschiedenen, bezeichnen. Das Wort ist zu selten, um genau den Inhalt bestimmen zu können. Ich habe es mit Schutz übersetzt, weil das den Begriff positiv füllt. Schutz ist sogar für Jesus bis zur Kreuzigung bezeugt. Man denke nur an die Sturmstillung, wo er sorglos schläft, bis ihn seine Jünger wecken (Mk. 4, 35-41). Oder seine Predigt in Nazareth, wo man ihn einen Abhang hinunterstürzen will, er aber mitten durch die Menge hindurchgeht (Luk. 4, 28-30).

53, 9. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei einem Reichen in seinen Toden, obwohl er kein Unrecht begangen hatte und kein Trug in seinem Munde war.

Das ist der doppeldeutigste Vers in Jes. 53, denn ein kleines Wörtchen kann einerseits einen folgenden Akkusativ andeuten, wie es die LXX und das Targum (= die aramäische Übersetzung) verstanden haben, denn es lässt sich ihrer Übersetzung entnehmen. Andererseits kann es auch eine Präposition sein, die man mit „bei“ übersetzt. Hinzu kommt, dass ein anderes kleines Wort sowohl „obwohl“ als auch „weil, damit“ bedeuten kann. An dieser Stelle möchte ich das nicht weiter erläutern. Mir war ohne Textänderung keine Verbesserung möglich, daher habe ich den Text, so wie er ist, übersetzt. Interessant ist der Plural (=Mehrzahl) bei Tod. Eine Person stirbt nur einen Tod, selbst wenn dieser grausam ist. Jeder, der glaubt, ist in Jesus mitgestorben. Röm. 6, 6: Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Bei dem Reichen hat man an Josef von Arimathäa gedacht (Mt. 27, 57; Mk. 15, 43; Luk. 23, 51; Joh. 19, 38).

53, 10. Und JHWH hatte vor, ihn zu zerschlagen und krank zu machen. Wahrhaftig, er stellte sein Leben als Schuldopfer zur Verfügung. Er wird Nachkommenschaft sehen, er wird viele Tage haben und der Plan JHWHs wird durch seine Hand Erfolg haben.

In Vers 10 nehme ich eine wichtige Änderung vor in der Wortabtrennung: somit wird kein Konsonant verändert, aber Person und Zeit passen besser. Dabei propagiere ich noch nicht einmal eine ungewohnte Konstruktion, sondern kann mich auf Ps. 132, 11 berufen. Dort steht am Anfang eines Teilsatzes das Wort „Wahrheit“. Trocken-wörtlich übersetzt heißt es: Wahrheit, nicht wird er (=JHWH) sich von ihr abwenden. „Wahrheit“ wurde vielleicht wie ein Ausruf an den Anfang eines Satzes gestellt. Man kann es mit „wahrlich“ oder „wahrhaftig“ umschreiben oder ein „es ist“ hinzufügen, um unser Sprachempfinden zu treffen. Vielleicht hat sogar die große Jesaja-Rolle aus Qumran genauso gelesen, denn sie hat kein Schluss-Mem, wie es beim Lesen einer Konditional Präposition „wenn“ erforderlich wäre. Zwar ist die Rolle in ihrer Lesung nicht immer zuverlässig, aber es besteht zumindest die Möglichkeit, dass sie so gelesen hat. Zu der damaligen Zeit gab es ja noch keine Vokalisation. Für Jes. 53, 10 ergibt sich ein positives Bild: Eine Konditional Präposition (wenn) verschwindet, vom nächsten Wort der 1. Buchstabe, der ohnehin nur „Mühe“ macht, da er eine „falsche“ Person und ein „falsches“ Tempus (=Zeit) produziert. Zurück bleibt ein Perfekt in 3. Person, wie es auch ohne Probleme verwendbar ist. Man kann es natürlich so wie Luther machen: man übersetzt einfach etwas, was nicht dasteht. Man übersetzt die Vulgata (=lateinische Übersetzung), da sie besser passt. Das ist aber der Offenbarungseid für den Übersetzer. Glücklicherweise ist unser Sprachverständnis nicht auf dem Niveau des Mittelalters geblieben, manchmal genügt ein Umdenken, ohne dass der Konsonantenbestand angegriffen werden muss.

Auf etwas Ungewöhnliches möchte ich hinweisen: Ein Toter sieht keine Nachkommenschaft, er wird auch nicht viele Tage haben. Zwar kann mit einfachen sprachlichen Mitteln, wie es LXX und Targum gemacht haben, den Tod des Knechtes in Vers 9 leugnen, aber wie will man in Vers 8 erklären, dass jemand vom Lande der Lebendigen abgeschnitten wird, ohne dass er stirbt. Nach meinem Dafürhalten kann man das nur erklären, wenn man die Auferstehung bei einer einzelnen Person annimmt. Zwar hat die jüdische Exegese sich im Mittelalter eine „corporate personality“ zur Deutung des Knechtes zurechtgelegt, aber es funktioniert einfach nicht ohne Texteingriffe, in Jes. 53 das Volk Israel als den Knecht zu identifizieren. Allein der „Treuebruch meines Volkes“ in Vers 8 macht das unmöglich – schließlich soll der Knecht diesen Treuebruch tragen.

53, 11. Um der Mühsal seiner Seele willen wird er sehen, er wird gesättigt werden. Durch seine Erkenntnis wird ein Gerechter, mein Knecht, die vielen gerecht machen und für ihre Verkehrtheit ist genau er der Träger.

Einige alten Zeugen (Jesaja-Rollen aus Qumran, LXX) fügen hinter „sehen“ übereinstimmend „Licht“ ein. Schon Luther (1545) hat „Lust“ ergänzt. In neuerer Zeit propagiert man ein neues hebräisches Wort, das „sich satt trinken“ bedeuten soll und deshalb zu „gesättigt werden“ passt. Ich habe keinen dieser Vorschläge übernommen, stattdessen möchte ich auf 1. Mose 22, 8 hinweisen, wo sich exakt dieselbe Verbform findet, die von Luther folgendermaßen übersetzt wird: (Gott) wird sich ersehen. Dieselbe Verbform erscheint noch zweimal in 1. Mose 22: (8)Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. (14) Und Abraham nannte die Stätte »Der HERR sieht«. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht. Diese Stellen haben keine Beziehung zu Jes. 53, 11, aber es ist interessant, dass ein objektloses „er wird (er)sehen“ auch hier erscheint.

„Er wird gesättigt werden“ bedeutet wohl: er wird die Fülle bekommen. Bedenken sollte man dazu, dass „Fülle haben“ mehrfach im NT in Bezug auf Jesus erwähnt wird: Joh. 1, 16: Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Kol. 1,19: Denn es hat Gott wohlgefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte (20) und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz. Kol. 2,9: Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (10) und an dieser Fülle habt ihr teil in ihm, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

„Durch seine Erkenntnis“ lasse ich einen neuen Satz beginnen, sprachlich genauso korrekt ist eine Anfügung an das Vorhergehende: „er wird gesättigt werden in seiner Erkenntnis“. Ein Grund ist nicht erkennbar, die Kopula (=„und“) durch ein „denn“ zu ersetzen, wie es die Lutherbibel gemacht hat. Ein Kausalsatz ist der letzte Teilsatz nicht. Nach meinem Verständnis wird der Mensch gerecht, wenn er die Erkenntnis übernimmt, die Jesus erworben hat. Die Erkenntnis Jesu ist die Kraft, die der Glaube enthält. Der Glaube rettet und macht gerecht vor Gott. Das klingt unscheinbar, aber das ganze Evangelium liegt darin. Wenn ein Mensch den Glauben erkennen kann, nimmt er das Reich Gottes in sich auf.

53, 12. Daher will ich ihm sein Teil geben an den Vielen und mit den Starken wird er Beute teilen, dafür, dass er sein Leben in den Tod ausgegossen hat und den Treuebrechern zugerechnet worden ist. Doch genau er hat die Verfehlung vieler hoch getragen und für die Treuebrecher bittet er.

Beim Bitten des Knechtes für die Treuebrecher hat das hebräische Verb denselben Stamm, wie er in Jes. 59, 16 vorliegt, aber in der revidierten Lutherübersetzung mit „ins Mittel treten“ wiedergegeben wird.