Jesus und JHWH verschmelzen

Es ist mir schwer gefallen, eine knappe, treffende Überschrift für diesen Exkurs zu finden, die die richtigen Erwartungen des Lesers weckt. Der unmittelbare Ursprung ist, dass mir sehr viele Übersetzungen zu Jesaja 52,14 nicht gefallen haben, weil sie die Außergewöhnlichkeit der Aussage nicht erfassen, sondern durch Ergänzungen verdecken.

 

Luther übersetzt schon 1545: „Das sich viel vber dir ergern werden / weil seine Gestalt heslicher ist / denn ander Leute / vnd sein Ansehen / denn der Menschen kinder“. Die Revision 1984 (1964) ist inhaltlich völlig identisch; es werden nur sprachliche Anpassungen vorgenommen: „Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder“. Andere Übersetzungen enthalten andere Ergänzungen, machen aber genau denselben Denkfehler, folgen also wohl unbewusst den Spuren Luthers. Menge (1926/1949), Zürcher (1931) und Schlachter (1952) zitiere ich mit der entscheidenden Stelle: Menge: „so entstellt, nicht mehr einem Manne ähnlich war sein Aussehen“. Zürcher: „so entstellt, nicht mehr menschlich war sein Aussehen“. Schlachter: „so sehr war sein Angesicht entstellt, nicht mehr wie das eines Menschen“. Alle Übersetzungen haben unausgesprochen im Hinterkopf, dass das Kreuz einen Menschen – Jesus – entstellt, so dass er hässlicher wird als andere Menschen. Luthers „andere Leute“ suggeriert schon diesen Vergleich mit Menschen. Das „mehr“ der anderen Übersetzungen drückt das in eine zeitliche Dimension (vorher menschlich – jetzt unmenschlich), die ebenfalls sprachlich nicht begründet ist.

 

Wortwörtlich sagt der Text nur, dass der Knecht schlimmer entstellt ist als ein Mensch. Genau das – aber auch nicht mehr – ist gemeint! Der Knecht ist nicht hässlicher als ein anderer Mensch, sondern in der direkten Verbindung mit unserer Schuld so hässlich, wie es überhaupt kein Mensch sein kann. Es wird kein Mensch beschrieben, der durch schlechte Behandlung hässlicher gemacht wurde als andere Menschen, sondern jemand, der eine Last trägt, die überhaupt kein Mensch tragen kann. JHWH selbst hat sich zum Sklaven (Knecht) gemacht wegen der Schuld von uns Menschen; bereits in den Anmerkungen zu 52,13 habe ich Jesaja 43,24 zitiert, wo JHWH sich zum Sklaven (Knecht) wegen der Sünden seines Volkes machen lässt. Kein antiker Grieche hätte es gewagt, seinen Gott Zeus so erbärmlich zu machen, dass er Knecht für Menschen wird. Mensch ist Mensch und Gott ist Gott. Die Grenze wird nicht überschritten. Nur einen winzigen Moment ist zwischen Gott und Mensch nicht mehr zu unterscheiden. Gott trägt unsere Schuld und Krankheit und der Mensch Jesus ist mit ihm verschmolzen, weil er am Kreuz hängt. In diesem Moment geschieht auch die Erlösung der Menschheit, weil in Christus jeder mitstirbt, der an ihn glaubt. In seiner Auferstehung ist auch jeder Glaubende mit auferstanden. An Jesaja 53 habe ich die Liebe Gottes für uns Menschen erkannt.